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Mittwoch, 8. April 2020

{Unhate Women} Sexualisierte Gewalt und Kunstfreiheit

Schränkt sexualisierte Gewalt die Kunstfreiheit ein - und sollte sie das?


Der Medienaufschrei war laut die letzten Tage. Der Rammstein-Sänger Till Lindemann veröffentlichte im März diesen Jahres seinen Gedichtband "100 Gedichte" im renommierten KiWi Verlag, der das Gedicht "Wenn du schläfst" enthält.
Dabei handelt es sich um plumpe Worte und dennoch ist das kurze Gedicht eine klare Vergewaltigungsfantasie, die meiner Meinung nach nicht nur beschönigt, sondern den Reiz zum Nachmachen beinhaltet. Unter anderem auch, weil die K.o.-Tropfen klar mit Namen benannt werden. Ein Zitat aus "Wenn du schläfst": "Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen."

Mein erster Impuls war klar: Ich war absolut angeekelt, fühlte mich gelähmt und wurde sehr wütend. Die Tage darauf, dachte ich viel über das Gedicht, das darauffolgende Medienecho sowie die Kunstfreiheit im Allgemeinen nach. Heute möchte ich Euch einen Einblick in meine Gedanken geben, ein paar Fragen in die Runde werfen sowie mit Euch über sexualisierte Gewalt in Worten diskutieren.

Zunächst: Was ist eigentlich sexualisierte Gewalt?


Sexualisierte Gewalt ersetzt in der Fachwelt weitestgehend den Begriff "sexuelle Gewalt", da dieser schnell dazu verleitet, die psychisch-emotionale Komponente und deren Folgen auszublenden. Dabei ist gerade diese so wichtig. 
Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die einem Menschen (egal ob Kind, Frau oder Mann) gegen seinen Willen aufgezwungen werden. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es sich um einen Akt der Aggression und des Machtmissbrauchs handelt. Indem man sagt, dass jemand seine Triebe nicht unter Kontrolle hat, beschreibt man sexualisierte Gewalt schlichtweg nicht richtig.

Ganz konkret reicht sexualisierte Gewalt von der sexuellen Belästigung erwachsener Frauen und Männer bis hin zum Kindesmissbrauch. 


Sprache und Sein

Wie Yuval Noah Hararis in "Eine kurze Geschichte der Menschheit" (2015 im Pantheon Verlag erschienen) beschreibt, breitete sich der "Homo sapiens" deshalb aus, weil er sich in großen Gruppen organisieren konnte. Und dies ist nur aufgrund einer fiktiven gemeinsamen Sprache möglich. Wir Menschen können uns mithilfe der Sprache über Dinge austauschen, die es gar nicht gibt.

Um es in seinen Worten zu sagen: » Mit der fiktiven Sprache können wir uns nicht nur Dinge ausmalen – wir können sie uns vor allem gemeinsam vorstellen. Wir können Mythen erfinden, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythen moderner Nationalstaaten.«

Sprache wird Realität. Und diese Realität wird wiederum von der Sprache legitimiert. 

Indem Gedichte wie "Wenn du schläfst" von Till Lindemann von einem bekannten deutschen Verlag verlegt werden, wird Gewalt (in dem Fall gegen Frauen) als etwas Alltägliches dargestellt.

Das Gedicht von Till Lindemann trägt dazu bei, dass weiterhin Gewalt gegen Frauen beschönigt und legitimiert wird.
Und das macht mich wütend!

Meiner Meinung nach, ist sexualisierte Gewalt ein sehr sensibles Thema in Deutschland, vor allem weil wir nicht darüber reden. Da verlange ich es von einem 57-jährigen erwachsenen Mann, dass er moralisch und verantwortungsvoll handelt - ebenso wie von dem Verleger des KiWi-Verlags.


Abgedruckt ja, aber nicht unkommentiert!


Ich bin klare Verfechterin der Kunstfreiheit und sehr dankbar dafür, dass diese im Grundgesetz im Artikel 5, Absatz 2 verankert ist. 
An der Universität belegte ich das Seminar "Medienrecht" und war tatsächlich kurz erstaunt, wie wenig Grenzen (vor allem das Persönlichkeitsrecht und den Jugendschutz), die Kunstfreiheit in Deutschland hat. Und das ist gut so!

Aber ich möchte einen provokanten Vergleich in die Runde werfen.

Wie reagieren wir auf einen rechtsradikalen Aufruf dazu, ein Flüchtlingsheim anzuzünden?


Verbalisierte Gewalt von rechts stößt in Deutschland absolut zu Recht auf scharfe Kritik. Nehmen wir ein sehr provokantes Beispiel: Neonnazis einer bekannten Band veröffentlichen ein Gedicht, das dazu aufruft, ein Flüchtlingsheim anzuzünden oder Ausländern Gewalt anzutun.
Wie wäre die Reaktion?
Ich bin mir sicher, dass sie sehr scharf wäre, es von allen Seiten Kritik hageln würde. Die Bandmitglieder würden Preise sowie Jury-Jobs in TV-Sendungen verlieren und wären einem vernichtenden Medienecho ausgesetzt. Meiner Meinung nach absolut zu recht.
Die Begründung dafür, würde auch in der deutschen Geschichte liegen.

Hakenkreuze sind in Deutschland verboten.
Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde in Deutschland in jeder Schule behandelt.
Jede Schülerin und jeder Schüler weiß, wofür das Hakenkreuz steht und warum es in Deutschland verboten ist.

Gedichte, die eine Vergewaltigung beschönigt darstellen, werden abgedruckt.
Ohne die Pflicht, diese zu kommentieren. 
Die Frauen(rechts-)bewegung wird in den meisten Schulen aus dem Lehrplan ausgespart. 
Nicht in jedem Sexualkunde-Kurs wird über sexualisierte Gewalt gesprochen.
In meiner kompletten Schullaufbahn wurde kein einziges Mal über "sexuelle Gewalt" diskutiert.
Viele Menschen kennen das Symbol "Orange the world" anlässlich des "Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen" (immer der 25. November) nicht. 


Frauen wurden jahrhundertelang systematisch Opfer von Gewalt.
Erst seit 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe eine Straftat in der Bundesrepublik.
Erst seit 2016 gilt in Deutschland gesetzlich "Nein heißt Nein". 

Ist es damit nicht auch ein Teil der deutschen Geschichte, dass Frauen systematisch unterdrückt wurden und damit sensibel?


Noch ein Beispiel: Heroische Kriegsbilder zeigen Schlachten, massende Tote und beschönigen oftmals Gewalt. Dennoch finde ich, dass man beschönigende Kriegsbilder nicht mit einem Gedicht, das Vergewaltigungen beschönigt, vergleichen kann.
Beim Anblick des Bildes hat jede*r Deutsche, jede*r Betrachter*in ein eigenes Bild im Kopf, denkt zum Beispiel an einen der beiden Weltkriege. Weltkriege, die nicht nur in der Schule, sondern auch in der Literatur, in Filmen, in den Medien aufgearbeitet wurden.
Bei einer Vergewaltigung ist das anders. Vergewaltigungen sind ein sehr sensibles Thema, über das selten gesprochen wird. Hier wird in dem Fall der Leser, die Leserin ihrer eigenen Fantasie überlassen, meist ohne vorherige Sensibilisierung in der Schule.

Ich hätte mir von Till Lindemann ebenso wie von seinem Verlag gewünscht, diese fehlende Sensibilisierung für das Thema im Hinterkopf zu behalten.
Provozieren ist in Ordnung. Polarisieren wollen ist in Ordnung.
Aber was ich nicht nachvollziehen kann: Wie kann man noch in den Spiegel blicken, mit dem Wissen, einen Text veröffentlicht zu haben, der vielleicht zu einer Vergewaltigung und damit zu einem eventuell lebenslangen Traumata aufseiten des Opfers führt? Und selbst wenn es nur eine einzige ist. Wie kann man nur?!

Ich hätte mir gewünscht, dass der Text nicht unkommentiert abgedruckt wird.
Dass ein Kommentar zeigt, dass diese Tat eine Straftat ist, die nicht nachgemacht werden darf.

Es mag sein, dass Till Lindemann nicht gegen unser Recht verstoßen hat. 
Aber moralisch hat er das für mich ganz klar. 

Parallele: die Pädophilie-Debatte in der Kunst

Ich bin weder Sprachwissenschaftlerin noch Kunstkennerin, dennoch hat mich die aktuelle Debatte an die Pädophilie-Debatte in der Kunst erinnert. Oft werden Ausstellungen verboten, die Kinder in sexualisierten Posen zeigen. Der Leiter des Museums Morsbroich in Leverkusen, Markus Heinzelmann argumentiert dagegen, dass das Museum ein Ort der öffentlichen Diskussion sei. Er meint: "Bildende Kunst ist dazu, gedacht zu werden, Kinder-Pornografie dazu, konsumiert zu werden".

Heinzelmann ruft dazu auf, dass ein Museum der Ort sei, um über Gewalt oder Tabus der Gesellschaft "in einem vernünftigen Rahmen" zu diskutieren.
Das trifft es finde ich ganz gut auf den Punkt: Bestimmte Bilder können moderiert werden, in dem Besucher ein bestimmtes Gemälde zum Beispiel nur mit einer Führung besichtigen können.
Mit Worten ist das weitaus schwieriger. Der Zugang zu einem Gedicht lässt sich nicht einschränken - und erfordert einen verantwortungsbewussten Umgang mit sensiblen Themen. 


Von einem Publikumsverlag erwarte ich mehr!


Wie reagierte der Verleger nun auf die Vorwürfe? Der Verlag betont, dass die Kritiker*innen das lyrische Ich mit dem Autor verwechselten.
Aber darum geht es nicht.

Ich glaube, den meisten Leser*innen ist bewusst, dass es sich bei dem lyrischen Ich nicht um Lindemann selbst handelt. Aber das ist auch völlig irrelevant für den Sachverhalt.

Schade, dass ein beliebter Publikumsverlag es nötig hat, seine Verkaufszahlen nach oben zu treiben, indem er dieses Gedicht abdruckt.

Ein Gegenbeispiel: #UnhateWomen

Besonders zynisch wird es, wenn man die Kampagne "#UnhateWomen",  betrachtet. Ende Februar startete die Menschenrechtsorganisation "Terre des femmes" die Online-Kampagne "#UnhateWomen", die frauenfeindliche Sprache deutschsprachiger Rapper anprangerte.

© Terre des Femmes/ Philipp und Keuntje

Sexismus wird geliked, gefeiert und damit Teil unseres Alltags und unserer Sprache. Dass dies nicht nur im Hip-Hop ein Problem ist, zeigt nun überdeutlich Lindemanns Text, der von einem Verlag abgedruckt wurde.
Anbei ein Einblick in #UnhateWomen:


Ich bin gespannt auf Eure Meinung zu dem Thema!

Erfordert sexualisierte Gewalt Eurer Meinung nach Einschränkungen in der Kunstfreiheit?
Was haltet Ihr von der Kampagne #Unhate Women?

Ich danke Euch fürs Lesen und wünsche Euch noch eine schöne Restwoche!
Eure Hannah



Link- und Buchtipps: 

Fixpoetry, Ein offener Brief an den Kiepenheuer-Witsch-Verlag: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kolumnen/2020/offener-brief-an-den-kiepenheuer-witsch-verlag-bzgl-der-reaktion-auf-die-kritik-an-till-lindemanns

Digitales Deutsches Frauenarchiv: "Frauen im Netz. Über Sprachgewalt und gewaltvolle Sprache": https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/blog/frauen-im-netz-ueber-sprachgewalt-und-gewaltvolle-sprache

Edition F., Kristina Lunz, "Bei Gewalt gegen Frauen geht es immer um Macht": https://editionf.com/bei-gewalt-gegen-frauen-geht-es-immer-um-macht/

#UnhateWomen Kampagne: https://www.unhate-women.com/de/

Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Frauen gegen Gewalt: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles.html

Yuval Noah Hararis: "Eine kurze Geschichte der Menschheit", Pantheon Verlag, 2015


Quellen:


https://www.gewaltinfo.at/fachwissen/formen/sexualisiert/
https://www.monopol-magazin.de/was-darf-die-kunst-zeigen
https://www.unhate-women.com/de/


6 Kommentare:

  1. Liebe Hannah!
    Ich sehe das ähnlich: Unkommentiert geht sexualisierte Gewalt im Allgemeinen oder das Gedicht, das du ansprichst, gar nicht. Vor allem weil Leser*innen in einem Buch gar keine Möglichkeit haben nachträglich zu kommentieren, wenn der Verlag dies schon nicht von Vornherein tut... Bei einer online Veröffentlichung wäre das wieder anders, komisch, dass ein Verlag da nicht mit denkt.

    Was hilft? Weiter schreiben, diskutieren, aufklären - Danke Dir!

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  2. Liebe Hannah,
    danke für den interessanten Artikel. Ich sehe das Ganze noch radikaler: jegliche Form von sexualisierter Gewalt hat meine Meinung nach absolut nichts mit Kunstfreiheit zu tun! Wie du selbst geschrieben hast Worte / Sprache haben performativen Charakter - sie erschaffen Gedanken und somit Handlungen. Die Verbreitung solcher Gedankengüter führt nur dazu dass es mehr und mehr Opfer geben wird! Die Männer, die sich von diesem Gedicht (unterbewusst) inspirieren lassen, werden höchstwahrscheinlich nicht die Kritiken oder Anmerkungen zu einem solchen Gedicht lesen. Und selbst wenn sie diese lesen, sind die Gedanken schon vorher in ihren Köpfen eingepflanzt und erscheinen immer mehr normalisiert.
    Ich finde es unfassbar ekelig und es macht mich sehr wütend, dass der Verlag so ein Gedicht veröffentlicht und somit Vergewaltigungen legitimiert!
    LG
    Theresa

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    1. Liebe Theresa,
      sehr gerne. Danke fürs Teilen Deiner Meinung!
      Liebe Grüße zurück,
      Hannah

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  3. Liebe Hannah,
    danke für deine Artikel, die immer sehr zum Nachdenken und Diskutieren anregen!
    Ich kannte die #unhatewomen Kampagne noch nicht, finde sie aber mehr als schockierend. Solche Liederteyte und auch das Gedicht sind einfach widerlich und haben meiner Meinung nach nichts mehr mit Kunst zu tun. Für mich ist Kunst zwar schon etwas, das Emotionen beschreiben und auslösen soll, doch gibt es da eine klare Grenze, wenn zum Beispiel Gewaltverherrlichung ins Spiel kommt.
    Ich finde es auch sehr schade, dass, sobald ich an deutschen Rap denke, immer gleich an solche extremen Texte denken muss und diese für mich somit auch eine ganze Musikrichtung negativ beeinflussen.

    Mach weiter so und bisous!

    Clara

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    1. Liebe Clara,

      danke für Deinen Kommentar und das Teilen Deiner Kunstauffassung.
      Spannend auch, dass Du mit Deutschrap automatisch die extremen gewaltverherrlichenden Texte verbindest. Das geht mir manchmal ähnlich und ich finde es sehr schade, da ja prozentual nur ein sehr kleiner Teil des Deutschraps gewaltverherrlichende Texte hat.

      Liebe Grüße zurück und merci,
      Hannah

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